Meine Urgroßmutter saß am Fenster und schaute hinaus in den fallenden Schnee. Sie träumte, ich sah es ihr an. Die Lichter, den Weihnachtsschmuck, die alte Krippe, all das sah sie in diesem Augenblick nicht, denn ihr Herz weilte in der Vergangenheit, wie so oft in den letzten Tagen. Ich kam nicht dahinter, welches Ereignis sie so beschäftigte, wagte aber auch nicht zu fragen. Denn ihre Mimik schwankte zwischen Wehmut und Traurigkeit.
Ich brachte meiner Urgroßmutter ihren Tee und setzte mich
ihr gegenüber. Würde sie mir erzählen, was sie bekümmerte?
Ihr silberweißes Haar leuchtete im Schein des
Adventskranzes, ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt. Doch sie schwieg, und ich
konnte diese Ungewissheit nicht mehr aushalten.
„Oma, was bedrückt dich?“
Sie blinzelte, als erwache sie aus einem Wachtraum, und schaute
mich an.
„Ich habe einen Bericht im Fernsehen gesehen, über den
Ersten Weltkrieg. Kennst du die Geschichte mit dem Weihnachtsfrieden an der
Front?“
„Ich meine, da mal was gehört zu haben, weiß aber gerade
nicht, was da passiert ist.“
„Es erinnerte mich an meine Jugend, und ich fragte mich, wie
es wohl damals für diese Soldaten gewesen sein mochte.“
Ich wusste, dass sie in Kriegszeiten aufgewachsen und mit
neunzehn Jahren aus dem früheren Pommern geflüchtet war.
„Erzähl mir davon, Oma. Du weißt doch, ich liebe besondere Weihnachtsgeschichten.“
Die Kerzenflammen ließen ihre braunen Augen aufleuchten wie
Bernstein, als sie begann zu erzählen.
„Es war bitterkalt in dieser Heiligen Nacht. An den Wänden
der Schützengräben hatte sich Eis gebildet, und die Soldaten zitterten in ihrer
unzureichenden Winterkleidung. Keine Schüsse fielen, es blieb still. Nur der
Wind fegte durch die Gräben und wehte Schneeflocken zu ihnen herein.
Die Männer verhielten sich ruhig, schauten sich heimlich die
Fotos ihrer Geliebten an oder schrieben Briefe an ihre Familie. In ihren Augen
stand das Sehnen nach der Heimat. Stattdessen saßen sie hier in Flandern an der
Westfront und mussten sich den Briten stellen, die teilweise kaum 50 Meter von
ihnen in ihren eigenen Verstecken hockten.“
Meine Urgroßmutter hielt inne, als überlege sie kurz, dann
lächelte sie versonnen.
„Einer der Soldaten wickelte ein Päckchen seiner Familie
aus. Nennen wir ihn … Curt.“
Ein blasser Halbmond stand am Himmel, Eisnebel verhüllte das
Feld, als Curt durch eine Luke zum feindlichen Schützengraben schaute. Die
Briten verhielten sich ruhig, so wie sie. Geflüsterte Befehle, leises Husten,
oder ein Räuspern war alles, was Curt hörte.
Er hockte sich hin und nahm das kleine Paket an sich. Sie
hatten Post aus der Heimat bekommen, damit sie sich nicht völlig verloren
fühlten.
Das braune Papier fühlte sich klamm an, als Curt das
Geschenk seiner Familie mit steif gefrorenen Fingern auswickelte. Er fand
Schokolade, neue Handschuhe und … Curt lachte leise auf, denn seine Schwester
musste eine Packung Zigaretten hineingeschmuggelt haben. Rasch zog er seine verschlissenen,
fingerlosen Handschuhe aus, mit denen man gut ein Gewehr abfeuern konnte, die
aber nicht wirklich warmhielten, und streifte die neuen Wollhandschuhe über. Er
wickelte die Schokolade aus und probierte ein Stück. Mit geschlossenen Augen
genoss er den sahnigen Geschmack der Süßigkeit.
Auf einmal erhob sich der Soldat Toni und lauschte. Curt richtete
sich auf. Alle waren sofort in Alarmbereitschaft.
„Hört ihr das?“, flüsterte Toni.
Curt erhob sich und lugte vorsichtig über den Graben. Da nahm
auch er es wahr. „Sie singen ein Weihnachtslied“, sagte er verwundert.
Die Männer sahen ihren Leutnant an, der etwas in sein
Tagebuch schrieb, jetzt aber zu ihnen aufsah. „Wir werden heute nicht auf sie
schießen. Gebt es weiter“, befahl er und beugte sich wieder über sein Buch.
Ein Raunen machte die Runde, der Befehl des Leutnants verbreitete
sich wie ein Lauffeuer.
Curt schaute auf den klappbaren Weihnachtsbaum, den sie von
der Obersten Heeresleitung bekommen hatten. In ihm keimte eine Idee. Mit einem
Lächeln ging er zu dem Baum, packte ihn und stellte ihn kurzerhand auf den Rand
des Schützengrabens, sodass der Feind die Kerzenlichter sehen konnte.
Sie tauschten untereinander Blicke aus.
Curts Herz klopfte schneller, als er sah, dass von drüben
eine Antwort kam. Die Briten stellten Kerzen in den Schnee. Flackernde Lichter,
die der Dunkelheit trotzten. Einige erloschen vom Wind, aber man entzündete sie
wieder.
Toni näherte sich, den Blick auf die Lichter des Feindes
gerichtet. Er begann zu singen, und seine klare Stimme ließ mich die Kälte und
den Krieg für einen Augenblick vergessen. Das Lied trieb mir die Tränen in die
Augen, denn die Melodie erinnerte mich an zu Hause.
Niemand sagte auch nur ein Wort, Tonis Gesang wurde vom Wind
fortgetragen.
Als er Stille Nacht anstimmte, sang Curt zögerlich mit,
andere ebenso.
Das, was nun geschah, erfüllte die Soldaten mit einem
Frieden, den sie so vielleicht nie wieder erleben würden. Denn der Feind
stimmte mit ein. Sie sangen die englische Fassung.
Noch nie zuvor hatte ihn dieses Lied so gerührt.
Toni tat das Unvorstellbare. Mit hoch erhobenen Händen stieg
er langsam aus dem Schützengraben, bevor der Leutnant ihn aufhalten konnten.
„Toni, nicht! Was soll das denn?“, zischte Curt.
Doch Toni lächelte und kletterte in den Schnee. Mit
Schrecken sah Curt, wie drüben die Gewehre geladen wurden, er sah die Läufe auf
den Rändern. Aber niemand schoss.
„Frohe Weihnachten“, rief Toni plötzlich zu den Briten.
„Merry Christmas.“
Nichts geschah, Toni stand immer noch mit erhobenen Händen
da. Curt sah, wie die Läufe der Waffen verschwanden. Zwei Briten folgten Tonis
Beispiel, kletterten aus dem Graben.
„Ihr bleibt hier!“, befahl der Leutnant mit scharfer Stimme,
doch Curt hatte seinen Fuß schon in eine Kerbe gesetzt und stieg aus dem
sicheren Versteck.
Immer mehr Soldaten von beiden Seiten kamen nun auf das freie
Feld. Sie gingen aufeinander zu.
Ein schmächtiger Brite näherte sich Curt, lächelte scheu. „Merry
Christmas. My name is George.”
„Ich bin Curt, also …ähm … My name is Curt.”
„It’s christmas … Weihnacht … and we want peace today.”
„Ja, Frieden“, sagte Curt mit einem Nicken. „Das wollen wir heute
auch.“
George atmete erleichtert durch und sagte seinen Kumpanen
etwas auf Englisch. Die Zigarettenpackung von seiner Schwester befand sich in Curts
Jackentasche, und er holte sie hervor, bot George eine an. „Hast du Feuer?
Fire?“
Der Engländer nahm die Zigarette und kramte in seiner
eigenen Tasche, holte Streichhölzer hervor.
Im Augenwinkel sah Curt, wie der Leutnant seinen Soldaten
folgte. Curt beobachtete, wie er zu einem britischen Offizier ging und ihm die Hand
reichte.
So rauchten Curt und George im Schnee, tauschten
Schokoladenstücke gegen Kekse, zeigten sich Bilder von zu Hause. Bald müssten
sie wieder in die Wirklichkeit zurück, dann wären sie wieder Feinde. Doch heute,
an diesem Weihnachtstag, durften sie Freunde sein.
Gegenwart
Ich brauchte einen Moment, um aus Omas Worten wieder
hervorzukommen. Von jeher war sie eine wunderbare Geschichtenerzählerin, sie
brauchte schon damals keine Kinderbücher, sondern dachte sich für mich stets
eigene Märchen aus. In diesem steckte dieses Mal so viel Wahrheit, das mir ein
Schauer über den Rücken lief. Ich begriff, dass der Friede in der
Weihnachtszeit vielleicht das Wichtigste von allem war. Nicht die Geschenke,
sondern die Atmosphäre, wenn jeder beisammen sitzt und dem anderen eine Freude
macht. Wenn man Streitigkeiten beiseitelegt und diese besondere Nacht wirklich
heilig werden lässt − in unseren Herzen.